Like + Dislike

LIKE + DIslike

Die sozialen Medien funktionieren nach einer verführerisch einfachen Logik: entweder man mag etwas oder eben nicht. Ein Klick entscheidet, dazwischen gibt es keine Option.

Welche Auswirkungen haben solche Konditionierungen und warum lieben wir sie?

Beginnen wir mit dem sogenannten Marmeladen-Experiment.

Es ist ganz einfach: Stellen Sie eine Auswahl von sechs Marmeladen vor Ihren Laden. Sie werden feststellen, dass viele Ihrer Kunden die Auswahl interessiert probieren und rund ein Viertel von ihnen eine Marmelade kauft. Dann erhöhen sie die Auswahl auf 24. Noch mehr Menschen kommen und probieren aber – und das ist die Überraschung – nur ein Bruchteil der Kunden (rund 2 %) entscheidet sich tatsächlich dafür, eine Marmelade zu kaufen. 

 

Diese Versuchsanordnung geht zurück auf ein Experiment, das Marktforscher in Kalifornien angestellt haben. Das Experiment zeigt den klassischen Fall von "Choice Overload": eine überschaubare Anzahl von Optionen motiviert zu Entscheidungen, ein Überangebot führt zu Verwirrung. Am Ende entscheidet man sich für nichts. Besser keine Entscheidung als eine falsche.

 

Ich muss in letzter Zeit oft an das Marmeladen-Experiment denken. Die Agonie der politischen Lager nach der Wahl in Thüringen, die Katastrophe in Hanau, die provokante Rolle der AfD als Prüfstein demokratischer Gesellschaften, die unsäglichen Permanentherausforderungen des politischen Establishments durch Trump, die Debatten um den Klimawandel, die durch die Fridays for Future-Aktivisten zugleich als Generationenkonflikt lesbar sind. – All diese Themen sind gespickt mit Informationen, in denen eine Vielzahl an Einflussfaktoren wirksam wird, die nicht nur vielschichtig, sondern zugleich auch widersprüchlich und paradox sind.

Bei allen, die sich eine reflektierte Auseinandersetzung über diese diffizilen und komplexen Sachverhalte nicht leisten können oder im feinziselierten Argumentieren gegen den herrschenden Diskurs nicht geübt sind, führt das zu einem Rückfall in archaische Muster: Schwarz und Weiss, Gut und Böse, Ich und die Anderen, das Eigene und das Fremde, die Deutschen und die Ausländer, das Klima und die wirtschaftliche Notwendigkeit. Entlang dieser überkommenen Leitplanken wird das eigene Weltbild verteidigt. Zu retten ist es auf diese Weise zwar nicht, aber das Festhalten daran bedeutet zumindest die Sicherung des eigenen Standpunktes und damit eine Art psychologischen Rettungsring, der vor dem Ertrinken im Meer der Wagnisse und Unwägbarkeiten bewahrt.

 

Like oder Dislike, das ist hier die Frage

Alles dazwischen ist Verhandlungssache. Und die ist anstrengend, denn sie bedeutet eine Existenzform des Nicht-Festgelegtseins, des permanenten Überprüfens und Aushaltens von Widersprüchen. Thomas Bauer, ein kluger Kulturanthropologe, hat dazu ein ebenso schmales wie wichtiges Buch geschrieben. "Die Vereindeutigung der Welt" heißt es und beschreibt den Verlust an Vielfalt und Mehrdeutigkeit in modernen globalisierten Gesellschaften.

Der Befund erscheint zunächst anachronistisch, denn zumindest in Europa sind wir umgeben von Überfluss und Wahlmöglichkeiten ohne Ende. Fernsehprogramme, Urlaubsziele, Deos, politische Parteien, Partnerbörsen und Schokoriegel: die Marktwirtschaft hat in den vergangenen 100  Jahren eine schier unfassbare Bandbreite an Konsumoptionen hervorgebracht. Einerseits.

Andererseits verschwindet Diversität in den Bereichen, die wenig kalkulierbar sind – etwa die Fähigkeit mit Andersartigkeit bzw. kultureller und religiöser Differenz umzugehen oder die Akzeptanz von Widersprüchen und paradoxen Sachverhalten.

 

 

Ambiguität zulassen!

Thomas Bauer benutzt dafür das etwas sperrige Wort der "Ambiguitätstoleranz". Es bedeutet, tolerant zu sein gegenüber Konstellationen, die nicht auf den ersten Blick eindeutig sind. Es bedeutet, Heterogenes nicht in vorschnellen Kompromissen glattzubügeln, sondern mit Vielschichtigkeit umgehen und Widersprüche aushalten zu können. Tatsächlich geht ebendiese Kompetenz verloren in einer Welt, in der vor allem zählt, was zählbar ist. Je eindeutiger desto erfolgreicher. Wenn man es mit Thomas Bauer auf den Punkt bringen will: Der Erfolg kapitalistischer Gesellschaften ist untrennbar gebunden an die Vermeidung von Mehrdeutigkeit.

 

"Jeder Ware und jedem Menschen kann über die Mechanismen des Marktes ein exakter Wert zugemessen werden, der in einer exakten Zahl ausgedrückt werden kann und damit jedes Nachdenken über Wert und Werte beendet."

 

Kalkulierbares Risiko, berechenbarer Erfolg, Quotenregeln, Alternativlosigkeit –  solche Vokabeln verraten, worauf eine Gesellschaft Wert legt. Was ja im Prinzip auch gar nicht verkehrt ist. Menschen tendieren generell dazu, Situationen der Zweideutigkeit und Unklarheit zu vermeiden. Das ist Teil unseres genetischen Programms und sicherte jahrtausendelang das Überleben. Etwa wenn der Anführer einer Steinzeit-Sippe blitzschnell entscheiden musste, ob angesichts des großen Tieres mit langen Schneidezähnen, das sich gerade der eigenen Hütte nähert, eher Flucht oder Angriff die bessere Strategie ist.

 

Im Stadium der Super-Komplexität funktionieren diese archaischen Logiken des Entweder-Oder zwar nicht mehr, aber die Reflexe sind nach wie vor bestimmend: Dinge einfach machen, sich nicht das Hirn zermartern, sondern schön auf dem Boden der Gewohnheiten und des Gewohnten bleiben.

 

Die Wahrheit des Unentschieden

Nehmen wir das Beispiel 'Flug oder Bahnreise?' Die Frage ist simpel und motiviert von einer ebenso simplen Überlegung: Bahnreisen ist weniger klimaschädlich als Fliegen. Auf dieser Grundlage wäre die schlichte Antwort: Ja, ich reise künftig nur noch mit der Bahn! Leider ist es nicht so einfach, denn als beruflich Reisende ist meine Zeit begrenzt, meine Kunden sind unter Umständen nicht dazu bereit, den zeitlichen Mehraufwand hinzunehmen und ich riskiere, dass künftige Aufträge an meine flugtoleranten Wettbewerber gehen. Außerdem, wenn ich mir anschaue, wieviele Menschen in China täglich fliegen, dann ist das, was hier in Deutschland geschieht, doch peanuts, warum sich also einschränken? Noch dazu, wenn man bedenkt, dass mein Verzicht aufs Fliegen zum Niedergang der Fluggesellschaften und damit zum Abbau von Arbeitsplätzen beiträgt. Das will doch keiner! Andererseits ist auch die Bahn ein wichtiger Arbeitgeber und die Servicequalität ist ohnehin schon schlecht ... Schließlich frage ich mich, warum gerade ich als einzelne Bürgerin diese ganze Bürde der Verantwortung tragen soll, wo doch die Politik endlich aktiv werden müsste? Etwa durch finanzielle Anreize wie Bonuspunkte für Bahnreisende oder Steuerhilfen für Fluggesellschaften, die in den Ausbau grüner Treibstoffe investieren? Am Ende dieser langen Überlegungskette dröhnt mir der Kopf und ich beschließe, dass mir das alles egal ist. Und kaufe ein Flugticket.

 

Das Beispiel veranschaulicht die Funktionsweise von Komplexitätsreduktion: Dinge einfacher machen als sie sind. Weil sonst gar keine Entscheidung möglich ist oder weil man das Kopfweh nicht aushält. Das mit dem Kopfweh ist natürlich metaphorisch gemeint, klar ist aber, dass für viele Menschen die dauernde Unruhe im Kopf unerträglich ist. Sie halten es nicht aus, dass etwas unentscheidbar ist, dass am Ende nicht unbedingt immer ein 'richtig' oder 'falsch' steht und dass die Guten nicht immer gut und die Bösen nicht immer böse sind. Dass alles irgendwie vermengt und vermischt ist – Hybridisierung stellt einen der aktuellen Konjunkturbegriffe dar – und dass die klassischen Ordnungsinstrumente versagen.

 

Raus aus den Schubladen!

Ordnung schaffen ist deshalb ein weiterer wichtiger Impuls, um Ambiguität auszuschalten oder zumindest einzuhegen. Man baut viele Kästchen, in denen alles Platz findet, was nicht ins überkommene Schema passt und damit wieder einen eindeutigen Ort und einem Namen bekommt. Darin äußert sich ein Streben nach Reinheit, das sich an den disziplinären Ordnungssystemen von Wissenschaft und Politik ebenso ablesen lässt, wie am Schulsystem, wo der zu vermittelnde "Stoff" noch immer überwiegend fein säuberlich nach Fächern getrennt unterrichtet wird. Die Folge ist, dass das, was in einer komplett digitalisierten und globalisierten Welt mehr denn je wichtig wird, nämlich die Schulung eines Denkens in komplexen Zusammenhängen, keinen Platz hat. Inter- und Transdisziplinarität stellen in diesem Zusammenhang methodische Versuche dar, Räume jenseits der Kästchengrenzen zu öffnen. Trotzdem weiss jeder, der sich hin und wieder in diesen Transitzonen aufhält, wie unbehaust man sich dort fühlen kann.

 

Ist der Tesla ein Auto oder ein mobiler Computer?

Ist der Bio-Apfel aus Neuseeland nachhaltiger als der Aldi-Apfel aus Neubrandenburg?

Was bedeutet 'öffentlicher Raum' in einem Stadtquartier, das von Großinvestoren entwickelt wurde?

Ist ein Bild, das von einer KI "gemalt" wurde, Kunst?

 

Das "Denken ohne Geländer", für das die große Hannah Arendt einmal plädiert hat, erweist sich in der Praxis oft schwieriger als gedacht. Trotzdem oder gerade deshalb ist es wichtig, genau das zu üben. Vor allem im Hinblick auf die rasenden Fortschritte in der Künstlichen Intelligenz erweist sich "Ambiguitätslust" (Thomas Bauer) als Schlüsselqualifikation. Algorithmen kennen keine Ambiguität und sie kennen keine Moral. Egal wie komplex die Programme sind, letztlich basiert alles maschinelle Lernen auf eindeutigen Eingaben. 0 und 1. Menschen bestimmen die Bandbreite dazwischen. Und diese Zwischenräume sind bewegliche, fluide Gedanken- und Gestaltungsräume.

 

The mind is a muscle, keine Maschine!

 

 

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